Inklusion fehlgeschlagen?
1,6 Millionen Menschen mit Behinderung nicht auf dem Arbeitsmarkt integriert
- Aktualisiert: 29.11.2024
- 13:45 Uhr
- dpa
Der Konjunkturmotor stottert, viele Firmen sparen deswegen beim Personal. Diese negative Entwicklung bekommen auch Menschen mit Behinderung zu spüren, wie eine Untersuchung zur Inklusion zeigt.
Die Situation von Menschen mit Behinderung am Arbeitsmarkt hat sich einer Studie zufolge verschlechtert. Aus dieser Gruppe seien im Oktober in Deutschland 177.280 Menschen arbeitslos gewesen und damit sieben Prozent mehr als ein Jahr zuvor, heißt es in einer Untersuchung des Handelsblatt Research Institutes und des Vereins Aktion Mensch. Die Wirtschaftskrise gehe für Menschen mit Behinderung im Hinblick auf Chancengerechtigkeit mit einem deutlichen Rückschritt einher, sagte die Sprecherin von Aktion Mensch, Christina Marx.
Bereits im vergangenen Jahr hatte sich die Situation verschärft: 2023 lag die Arbeitslosenquote von Menschen mit Schwerbehinderung den Angaben zufolge bei durchschnittlich 11 Prozent und damit 0,2 Prozentpunkte höher als 2022. Schätzungsweise 46.000 Arbeitgeber hatten keine schwerbehinderten Beschäftigten, obwohl sie sie hätten haben müssen - das waren 1000 mehr als ein Jahr zuvor.
Ab 20 Mitarbeitenden sind Arbeitgeber verpflichtet, schwerbehinderte Menschen zu beschäftigen - das sind den Angaben zufolge rund 179.000 Unternehmen in Deutschland. Erfüllt ein Arbeitgeber die Pflichtquote von fünf Prozent nicht, muss er für jeden unbesetzten Pflichtarbeitsplatz eine Ausgleichsabgabe bezahlen.
Viele Firmen lassen Plätze unbesetzt
Der Anteil der Unternehmen, die alle Pflichtplätze besetzen, lag 2023 den Angaben zufolge nur bei 38,5 Prozent und damit 0,5 Prozentpunkte niedriger als ein Jahr zuvor. Das sei ein Tiefstwert, heißt es sorgenvoll von Aktion Mensch. Die Inklusionsbarometer genannte Studie kommt seit 2013 jedes Jahr heraus, sie basiert vor allem auf Zahlen der Bundesagentur für Arbeit. Die meisten Behinderungen entstehen im Laufe des Lebens, nur drei Prozent sind angeboren.
Die Privatwirtschaft stellt relativ wenige Menschen mit Behinderungen ein. Aktion-Mensch-Sprecherin Marx registriert das mit Kopfschütteln. "Eine schlechte Konjunktur greift als Erklärung nicht weit genug – schließlich klagt die Wirtschaft zunehmend über den Fachkräfte- wie auch den Arbeitskräftemangel allgemein." Unternehmen besetzen die Arbeitsplätze aber nicht mit den vielen gut qualifizierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit Behinderung, moniert Marx.
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Deutlich mehr Kündigungen
Kritisch ist auch, dass die Firmen ihren schwerbehinderten Beschäftigten häufiger gekündigt haben als zuvor. Gingen beim Integrationsamt im Jahr 2022 noch rund 17.000 Kündigungen ein, so waren es 2023 schon rund 21.000. Kündigt eine Firma einem Menschen mit Behinderung, so muss dies bei dem Amt beantragt werden. Damit die Kündigung gültig wird, ist die Zustimmung des Amts nötig. Vorher wird geprüft, ob nicht doch eine Weiterbeschäftigung möglich ist, etwa mit staatlichen Zuschüssen.
1,6 Millionen nicht auf dem Arbeitsmarkt integriert
In Deutschland gibt es den Angaben zufolge 3,1 Millionen Menschen mit einer schweren Behinderung, die zwischen 15 und 65 Jahre alt sind - also in einem Alter, in dem sie arbeiten könnten. Rund 1,1 Millionen dieser Menschen sind bei Firmen beschäftigt, die mindestens 20 Angestellte haben.
Schätzungsweise rund 200.000 Menschen mit Behinderung sind bei kleineren Firmen tätig. Abzüglich junger Menschen, die noch zur Schule gehen, und älteren Menschen, die schon in Frührente sind, sind es laut Aktion Mensch circa 1,6 Millionen Menschen mit Schwerbehinderung, die nicht in den Arbeitsmarkt integriert sind.
Ab 20 Mitarbeitenden sind Arbeitgeber verpflichtet, schwerbehinderte Menschen zu beschäftigen - das sind den Angaben zufolge rund 25.000 Unternehmen in Baden-Württemberg, Tendenz im Vergleich zu den Vorjahren steigend. Tatsächlich sei die Anzahl an Arbeitsplätzen für Arbeitnehmer mit Behinderung also gestiegen.
Die gesamtwirtschaftliche Beschäftigungsquote ist dennoch auf unter vier Prozent gesunken. Lediglich 35 Prozent der verpflichteten Unternehmen erfüllen laut Mitteilung die Fünf-Prozent-Quote vollständig. Keinerlei Menschen mit Behinderung beschäftigt dagegen noch immer mehr als jedes vierte Unternehmen. Insbesondere die Privatwirtschaft liege mit einer Einstellungsquote von 3,7 Prozent weit unter dem Soll.
Erfüllt ein Arbeitgeber die Pflichtquote von fünf Prozent nicht, muss er für jeden unbesetzten Pflichtarbeitsplatz eine Ausgleichsabgabe bezahlen. Diese wurde Anfang des Jahres deutlich erhöht. Man erhoffe sich von der schärferen Sanktionierung, dass sie sich positiv auf die Beschäftigungszahl von Menschen mit Behinderung auswirke. Marx sagte weiter, ein Nichterfüllen der Beschäftigungspflicht sei kein Kavaliersdelikt – denn es gehe um nichts Geringeres als das Recht auf Teilhabe am Arbeitsmarkt. Chancengleichheit müsse losgelöst von konjunkturellen Entwicklungen Bestand haben.